Zur Debatte studentischer Anwesenheitspflicht
an der Hochschule
Einige Phänomene und Erläuterungen, vor dem
Hintergrund „E-Learning“
„Professoren schreiben Bücher. Was sie geschrieben hatten,
lasen sie uns vor oder malten es an die Tafel. Und was sie vor-
lasen, schrieben wir mit der Hand in unsere Kolleghefte ein.
Und was wir eingeschrieben hatten, konnte man ebenso gut
des Abends wieder in ihren Büchern lesen. Während vorn ein
Kahlkopf mit grauem Kranz, Professor der Wärmelehre, über
den gedachten idealschwarzen Raum las, schrieb ich eine lan-
ge Stauraumliste für meine Bootsfahrt in den kommenden Se-
mesterferien.“
(aus: Alexander Spoerl, Memoiren eines mittelmäßigen Schülers, 1950)
Die vorstehende Sentenz beschreibt das subjektive Erleben
des „mittelmäßigen Schülers“ in einer Berliner universitären
Vorlesung in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Die Schil-
derung zeigt zweierlei, nämlich dass man den Sinn von stu-
dentischer Anwesenheit in Lehrveranstaltungen auch vor der
Erfindung des Tele- und E-Learnings hinterfragen konnte –
und schon immer hinterfragt hat. Und weiter, dass eine stu-
dentische physische Anwesenheit durch allerlei „Nebentätig-
keiten“ unterminiert werden kann.
Die zunehmende Akzeptanz elektronischer Medien in der
Hochschullehre und die Möglichkeit, mit diesen E-Learning-
Instrumenten verstärkt auch Tele-Learning (früher: „Fernstu-
dium“), und darüber hinaus autodidaktisches Tele-E-Lear-
ning zu befördern, hat zu neuen Komponenten des Diskurses
geführt: Brauchen die diversen Lehrveranstaltungen eine An-
wesenheitspflicht? Braucht man überhaupt noch eine Anwe-
senheitsmöglichkeit für Studierende? Sind etwa gar keine
Räumlichkeiten an der Hochschule mehr nötig? – Es böten
sich doch neue und phantastische Einsparmöglichkeiten im
hochschulspezifischen Länderhaushalt, wenn man das Vor-
halten und Unterhalten der teuren Gebäude- und Campus-
Infrastruktur reduzieren könnte!
Es ist gute wissenschaftliche Übung, zu Beginn des Dis-
kurses dessen Gegenstand hinreichend genau abzugrenzen.
Wir reden also zunächst von a) Anwesenheit und von b)
Pflicht.
Ad a) – was ist „Anwesenheit“? Wir sind uns einigerma-
ßen sicher, dass „Anwesenheit“ die physische Präsenz eines
Menschen an einer Szenerie bezeichnet. Der Rest ist relativ.
So kennt man die doch hinterfragbare rein körperliche
„Anwesenheit“ von Angeklagten in Strafgerichtsprozessen,
wo das ebenfalls anwesende Publikum und die Presse nur
noch konsterniert konstatieren können, dass der „Angeklag-
te der Verhandlung ohne jede erkennbare Regung folgte“. Im-
merhin hat der Angeklagte damit keinen weiteren Schaden
angerichtet.
Anwesenheit kann selbstverständlich auch dahingehend ge-
nutzt werden, der zentralen Szenerie ein massives Desinter-
esse, gar Verachtung, zu demonstrieren. Früher las man als
Parlamentarier gerne demonstrativ die – ganz wichtige! – Ta-
geszeitung, wenn der politische Gegner am Rednerpult stand,
heute dient die unverhohlene und intensive Beschäftigung mit
dem Smartphone dem nämlichen Zweck.
Sprichwörtlich auch der „Kirchenschlaf“, den vornehmlich
solche Personen pflegen, denen man, aus welchen Gründen
auch immer, einen Gottesdienstbesuch – quasi extrinsisch
Prof. Dr. Georg Rainer Hofmann
ist Direktor des Information Management
Institut IMI in Aschaffenburg, Sprecher
der FG „Software- und Service-Markt“ der
GI e.V., Mitherausgeber der Zeitschrift
„Wirtschaftsinformatik“, Beirat der De-
sign3000 GmbH, Aufsichtsrat der CAP-
Com AG und Leiter der KG „E-Commer-
ce“ des eco e.V.
E-Mail: georg-rainer.hofmann@h-ab.de
Schwerpunkt | Kommentar
30 Wirtschaftsinformatik & Management 2 | 2015