Zum 15. Todestag Franz Schalks
L., P.
1946-09-01 00:00:00
Musikleben IN M E M O R I A M DR. ERNST KURTH Ein bahnbrechender Musikgelehrter von internationalem Format, der Ordinarius für Musikwissenschaft der Universität Bern, Dr. Emst Kurth, hat nadi schwerem Leiden am 2. August dieses Jahres seine Augen für immer gesdilossen. Geborener Wiener, hat er seinen österreidüsdien Charakter audi als treuer Adoptivsohn seiner schweizerischen Wahlheimat beibehalten. Tiefe Religiosität und größte Bescheidenheit waren der Grundzug dieser Persönlichkeit, die mit den großen Geistern seiner Zeit, wae Albert Einstein, Romain Rolland und Albert Schweitzer, in freundschaftlicher Beziehung stand. Seine ,,Romantische Harmonik", ,,Die Grundlagen des linearen Kontrapunkts" und sein ,,Bruckner" sind Standardwerke der Musikwissenschaft. Der Zulauf von Hörem bei seinen Vorlesungen ging weit über die Grenzen des Bemischen Institutes hinaus, aber seine eigentliche Wirksamkeit übte er im Seminar aus, wo er in vorherrschend sokratischer Lehrmethode eine ganze Generation Musikwissenschafter heranzog, die ihn als väterlichen Freund verehrten. Es sind vor aUem die psychologischen Innenvorgänge des Musikschaffens, deren Geheimnisse er wie keiner vor ihm enthüllte. Er räumte endgültig mit der Fabel von Bruckners Formlosigkeit auf, indem er dessen eigenartiges, dynamisches ,,Entwidclungsprinzip" aufdeckte, welches sich durch die Ecjcsätze und später auch durch die Mittelsätze der Symphonie mit der Zielstrebigkeit der alle Sätze durchziehenden Kraftlinien zum Höhepunkt im Finale und seiner Krönung durch eine Apotheose des Kopfthemas hinzieht. Ihm ist die Form nicht Schema, sondern ein von seelischen Kräften durchflutetes Qefäß des Geistes. Wie tief seine ethische Einstellung gerade zu seinem ,,Bmckner" war, geht daraus hervor, daß er dieses Werk dem Schreiber dieser Zeilen als ,,Sühneopfer" bezeichnete. Zwei Aussprüche Emst Kurths mögen genügen, um seine Einstellung zu seinem großen Landsmann zu kennzeichnen. Er nennt Bmckner ,,die größte musikalische Macht der Weltgeschichte seit J. S. Bach" und stellt fest, daß ,,die Welt wird für Bmckner dann reif sein, wenn sie zu ihm flüchten muß". Der Geist dieses seltenen Mannes, der auch die furchtbaren Folgen des Preußentums für Europa vorausgeahnt hat, wird sich durch Neuauflage seiner Werke, wie ein Phönix aus der Asche nazistischer Bücherverbrennung wieder erheben und der Musikwissenschaft neue Wege weisen. Max Auer. Am 3. September 1931 hat man Franz Schalk auf dem Friedhof von Reichenau zu Grabe getragen. Die Kunstwelt Österreichs flaggte damals innerlich auf Halbmast; denn sie verlor eine ihrer stärksten musikalischen Potenzen, eine Persönlichkeit imponierenden geistigen Profils und menschlicher Lauterkeit, einen Mann, der den feinnervigen Organismus des Wiener Musiklebens wie kein zweiter durchschaute und seine Lebensaufgabe darin erblickte, den jeweils kränklichen Gliedern Hilfe zu spenden und sie zu neuer Kraft und Blüte zu führen. Zur Jahrhundertwende vrarde Schalk von Mahler als Nachfolger Hans Richters auf den ersten Kapellmeisterposten der Wiener Oper berufen. Und weil er eine jener Doppelbegabungen war, die sowohl am Dirigentenpult wie in der Direktionskanzlei, im Probenzimmer der Oper wie am Verhandlungstisch des Ministeriums zu imponieren wußte, hatte man Schalk nach dem ersten Krieg zum Opemdirektor gemacht. Fünf Jahre Doppeldirektion mit Richard Strauß bewiesen, daß die Zähigkeit und Ausdauer des minder berühmten Chefs den Ausschlag gaben; schließlich blieb Schalk allein am Steuer der Wiener Staatsoper zurück und führte sie mit starker Hand durch die politischen und finanziellen Wirren der Nachkriegszeit zu neuen künstlerischen Höhen. Daneben hatte Schalk seit 1904 die Leitung der Konzerte der Gesellschaft der Musikfreunde inne, gab in dieser Zeit dem Singverein seinen geachteten Namen wieder und begründete nach seinem Ausscheiden aus der Gesellschaft der Musikfreunde die Konzertvereinigung Staatsopemchor. Und Schalks Anteil an den Sängerknaben und der Hofkapelle? Und an dem Weltmhm der Philharmoniker, die er 1906 zum erstenmal nach London führte? In die Musikgeschichte eingegangen ist Schalk jedoch als einer der treuesten Vorkämpfer Anton Bmckners und seiner neu erschlossenen österreichischen Tonmystik. Franz Schalk hat ein reiches Erbe hinterlassen. Viele Herzen und viele Hände bemühen sich seit fünfzehn Jahren um die Verwaltung. Aber heute mehr denn je warten wir auf den Mann mit der universellen Begabung und dem starken Willen, der das Vermächtnis des großen Österreichers Franz Schalk wieder in lichte Höhen führen möge als ein selbstloser Diener am Altar der Kunst. P. L.
http://www.deepdyve.com/assets/images/DeepDyve-Logo-lg.pngÖsterreichische Musikzeitschriftde Gruyterhttp://www.deepdyve.com/lp/de-gruyter/zum-15-todestag-franz-schalks-Y1IddM1yy1
Musikleben IN M E M O R I A M DR. ERNST KURTH Ein bahnbrechender Musikgelehrter von internationalem Format, der Ordinarius für Musikwissenschaft der Universität Bern, Dr. Emst Kurth, hat nadi schwerem Leiden am 2. August dieses Jahres seine Augen für immer gesdilossen. Geborener Wiener, hat er seinen österreidüsdien Charakter audi als treuer Adoptivsohn seiner schweizerischen Wahlheimat beibehalten. Tiefe Religiosität und größte Bescheidenheit waren der Grundzug dieser Persönlichkeit, die mit den großen Geistern seiner Zeit, wae Albert Einstein, Romain Rolland und Albert Schweitzer, in freundschaftlicher Beziehung stand. Seine ,,Romantische Harmonik", ,,Die Grundlagen des linearen Kontrapunkts" und sein ,,Bruckner" sind Standardwerke der Musikwissenschaft. Der Zulauf von Hörem bei seinen Vorlesungen ging weit über die Grenzen des Bemischen Institutes hinaus, aber seine eigentliche Wirksamkeit übte er im Seminar aus, wo er in vorherrschend sokratischer Lehrmethode eine ganze Generation Musikwissenschafter heranzog, die ihn als väterlichen Freund verehrten. Es sind vor aUem die psychologischen Innenvorgänge des Musikschaffens, deren Geheimnisse er wie keiner vor ihm enthüllte. Er räumte endgültig mit der Fabel von Bruckners Formlosigkeit auf, indem er dessen eigenartiges, dynamisches ,,Entwidclungsprinzip" aufdeckte, welches sich durch die Ecjcsätze und später auch durch die Mittelsätze der Symphonie mit der Zielstrebigkeit der alle Sätze durchziehenden Kraftlinien zum Höhepunkt im Finale und seiner Krönung durch eine Apotheose des Kopfthemas hinzieht. Ihm ist die Form nicht Schema, sondern ein von seelischen Kräften durchflutetes Qefäß des Geistes. Wie tief seine ethische Einstellung gerade zu seinem ,,Bmckner" war, geht daraus hervor, daß er dieses Werk dem Schreiber dieser Zeilen als ,,Sühneopfer" bezeichnete. Zwei Aussprüche Emst Kurths mögen genügen, um seine Einstellung zu seinem großen Landsmann zu kennzeichnen. Er nennt Bmckner ,,die größte musikalische Macht der Weltgeschichte seit J. S. Bach" und stellt fest, daß ,,die Welt wird für Bmckner dann reif sein, wenn sie zu ihm flüchten muß". Der Geist dieses seltenen Mannes, der auch die furchtbaren Folgen des Preußentums für Europa vorausgeahnt hat, wird sich durch Neuauflage seiner Werke, wie ein Phönix aus der Asche nazistischer Bücherverbrennung wieder erheben und der Musikwissenschaft neue Wege weisen. Max Auer. Am 3. September 1931 hat man Franz Schalk auf dem Friedhof von Reichenau zu Grabe getragen. Die Kunstwelt Österreichs flaggte damals innerlich auf Halbmast; denn sie verlor eine ihrer stärksten musikalischen Potenzen, eine Persönlichkeit imponierenden geistigen Profils und menschlicher Lauterkeit, einen Mann, der den feinnervigen Organismus des Wiener Musiklebens wie kein zweiter durchschaute und seine Lebensaufgabe darin erblickte, den jeweils kränklichen Gliedern Hilfe zu spenden und sie zu neuer Kraft und Blüte zu führen. Zur Jahrhundertwende vrarde Schalk von Mahler als Nachfolger Hans Richters auf den ersten Kapellmeisterposten der Wiener Oper berufen. Und weil er eine jener Doppelbegabungen war, die sowohl am Dirigentenpult wie in der Direktionskanzlei, im Probenzimmer der Oper wie am Verhandlungstisch des Ministeriums zu imponieren wußte, hatte man Schalk nach dem ersten Krieg zum Opemdirektor gemacht. Fünf Jahre Doppeldirektion mit Richard Strauß bewiesen, daß die Zähigkeit und Ausdauer des minder berühmten Chefs den Ausschlag gaben; schließlich blieb Schalk allein am Steuer der Wiener Staatsoper zurück und führte sie mit starker Hand durch die politischen und finanziellen Wirren der Nachkriegszeit zu neuen künstlerischen Höhen. Daneben hatte Schalk seit 1904 die Leitung der Konzerte der Gesellschaft der Musikfreunde inne, gab in dieser Zeit dem Singverein seinen geachteten Namen wieder und begründete nach seinem Ausscheiden aus der Gesellschaft der Musikfreunde die Konzertvereinigung Staatsopemchor. Und Schalks Anteil an den Sängerknaben und der Hofkapelle? Und an dem Weltmhm der Philharmoniker, die er 1906 zum erstenmal nach London führte? In die Musikgeschichte eingegangen ist Schalk jedoch als einer der treuesten Vorkämpfer Anton Bmckners und seiner neu erschlossenen österreichischen Tonmystik. Franz Schalk hat ein reiches Erbe hinterlassen. Viele Herzen und viele Hände bemühen sich seit fünfzehn Jahren um die Verwaltung. Aber heute mehr denn je warten wir auf den Mann mit der universellen Begabung und dem starken Willen, der das Vermächtnis des großen Österreichers Franz Schalk wieder in lichte Höhen führen möge als ein selbstloser Diener am Altar der Kunst. P. L.
Journal
Österreichische Musikzeitschrift
– de Gruyter
Published: Sep 1, 1946
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